Von Johannes Heimrath 2001

(Diese kleine Ansprache war ursprünglich für die Pressekonferenz am 26.09.2001 in Papendorf vorbereitet worden. Aufgrund der Verzögerung durch die Demonstration der Angestellten der Peeneland Agrar GmbH wurde der Text dann nicht vorgetragen.)

Wer glaubt, ein Zusammenhang der aktuellen Ereignisse auf den Feldern, Gärten und Höfen in Mecklenburg-Vorpommern mit den schrecklichen Ereignissen in New York und Washington sei konstruiert, der irrt. Gerade dieses unfassbare Menschenopfer, das sich dort vor unseren Augen abgespielt hat, muss in unsere aktuellen Überlegungen und Handlungen einfließen, wenn die Tausenden von Unschuldigen, die mitten aus einem heiteren Himmel in den Tod stürzten, nicht sinnlos gestorben sein sollen.

Der erste Satz der zu lernenden Botschaft kann nur lauten: So darf es nicht weitergehen!

Alle Welt verurteilt die Taten des Terrors zu Recht als abscheuliche Verbrechen. Es ist aber für die Erhaltung des Friedens zu Beginnn des 21. Jahrhunderts von dringendstem Interesse, den Blick ohne Wehleidigkeit auf die Wurzeln dieser Taten zu richten. Die Wurzeln liegen in unserer eigenen Geschichte, in der übermächtigen Dominanz der westlichen Wirtschafts- und Finanzwelt und in dem krassen Ungleichgewicht der Verteilung von Glück und Wohlstand auf diesem Planeten. Die Wurzeln liegen in der nach wie vor mangelhaften Bildung der gesamten Menschheit, die es bisher sträflich versäumt hat, tragfähige Bilder und Begriffe zur Verständigung über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg zu schaffen. Eine Menschheit, die es versäumt hat, die Globalisierung der Ökonomie in eine planetare Ökologie einzubinden, die ihre globalen Kommunikationsmittel nur dazu benutzt, täglich Milliarden von Dollars in einer virtuellen Börsenwelt mehrmals um den Globus zu schicken, und nicht dazu, das Mitgefühl zu entwickeln und zu schulen, das uns mit der Lebenswirklichkeit der Mitmenschen auf den Schattenseiten dieses Planeten so verbindet, als wären es unsere Nachbarn von nebenan, muss sich eingestehen, ziemlich krank zu sein.

Wievielen von Ihnen ist bewusst, dass in den zwei Minuten, die ich bisher für meine Worte gebraucht habe, rund 40 Kinder auf dieser Erde an Krankheit und Hunger gestorben sind? Wenn Sie nach der Konferenz wieder in Ihren Redaktionen und Büros sitzen werden, werden schon wieder fast soviele Kinder gestorben sein, wie Menschen in den Trümmern des World Trade Centers umgekommen sind. Ich glaube, die schiere Zahl des täglichen Sterbens übersteigt unser Fassungsvermögen. Die Abstumpfung vor dem Ausmaß des Leides in der Welt ist womöglich ein Schutz, den wir benötigen, um unsere Lebensfreude nicht zu verlieren, die wir dringend brauchen, um unsere eigenen kleinen Leben tagtäglich führen zu können.

Die ökologische Katastrophe, die uns hier in der Gemeinde Pulow und Biobauern im ganzen Land betroffen hat, mag gegen das weltweite Leid völlig unbedeutend erscheinen, ja der Vergleich fast blasphemisch. Dennoch spielt auch in ihr der Tod eine Rolle. Wir erkennen im Kleinen genau dasselbe Symptom, das die weltweite Krankheit im Großen kennzeichnet: Es ist die Gier, die Menschen dazu treibt, unsere gemeinsamen Ressourcen wie das Land, die Pflanzen, den Boden, rücksichtslos allein um des Profits willen auszubeuten, ohne die Folgen für die Ressourcen selbst und vor allem für die Menschen, die unmittelbar von diesen Ressourcen leben, zu beachten. Diese Gier ist das größte Hindernis auf dem Weg zu einer neuen, integralen Kultur.

Was wir anprangern ist nicht allein der rücksichtslose, schlampige, fahrlässige Umgang mit Technik und Chemie bei einzelnen „schwarzen Schafen“ (Zitat Till Backhaus) der Agroindustrie. Was wir auch anprangern ist die Gier von wenigen, die – vom historischen Augenblick durchaus begünstigt – den gesamten Ertrag von Ressourcen einstreichen, die allen gehören – ein Phänomen der neuen Bundesländer, die nach der Einigung die riesigen Post-LPG-Strukturen noch immer nicht auf menschlich-naturgemäßes Maß zurückgeführt haben. So wichtig es ist, im konkreten Fall nach den Ursachen des Vergiftungsproblems zu forschen, Analysen anzustellen, den Schaden zu bewerten und Schadensersatz zu fordern, politische Schritte zur zukünftigen Vermeidung solcher Probleme einzuleiten, den betroffenen Menschen, privaten wie Unternehmern, schnell und existenzrettend zu helfen, so wichtig ist es auch, in diesem Konflikt die anstehenden Grundsatzfragen zu formulieren und sie vor allem unter Unseresgleichen – und das sind alle Menschen, die an einer gesunden, nachhaltigen und gerechten Zukunft interessiert sind – zu verbreiten. Diese Grundsätze müssen deutlich als das gekennzeichnet werden, was sie sind: Es sind die Fundamente einer neuen, integralen Kultur.

(Persönliche Bemerkung: Ich selbst bin seit 30 Jahren aktiver Teil der Bewegung, welche unter anderem die heute auf höchsten politischen Ebenen eingeforderte, damals schnöde verlachte ökologische Landwirtschaft auf den Weg gebracht hat. Damals gab es die Grünen noch nicht, Umwelt war kein Begriff, und Ökologie war ein Fremdwort, das wir uns erst in unzähligen und langwierigen Diskussionen aneignen mussten. Eine Größenordnung von 20% ökologisch angebauter Fläche in einem Bundesland, wie sie Mecklenburg-Vorpommern anstrebt, war ein Traum in fernster Zukunft.)

Heute gehören zu den führenden Denkern und Impulsgebern, auf deren Anregungen wir aufbauen, Personen wie der Systemtheoretiker, Club-of-Rome-Mitbegründer und Gründer des Club of Budapest Ervin Laszlo, der Astrophysiker und führende Kosmologe Attila Grandpierre, der Kulturkritiker und Philosoph Ken Wilber, der Bewusstseinsforscher John Kineman, der Heilungsforscher Daniel Benor, der Naturphilosoph und Begründer der integralen Tiefenökologie Jochen Kirchhoff, der Soziologe Paul Ray, der Begründer der Gaia-Hypothese James Lovelock, die Matriarchatsforscherin Heide Götter-Abendroth, der Bewusstseinsforscher und Ethnologe Paul Devereux, die Publizisten Jens Heisterkamp und Marco Bischof, der Bewusstseins- und Gehirnforscher Günter Haffelder, die Medizinforscherin und Heilerin Maria Sagi und viele mehr. Zu den meisten der Genannten bestehen über die fachliche Kooperation hinaus persönliche Beziehungen, die unser bescheidenes Pulow in ein globales Netz einbinden. Ich sage das, damit Sie sehen, dass unser Gift-Konflikt keineswegs nur eine lokale Auseinandersetzung zwischen einem „kleinen, unbeugsamen Dorf am Rande der Ostsee ist, das erbitterten Widerstand gegen einen mächtigen Landbenutzer leistet“ (frei nach Asterix). Was uns bewegt, den gegenwärtigen Herbizid-Skandal bis in alle Winkel zu durchleuchten und ihn als Mahnung zu verwerten – „So kann es nicht weitergehen!“ – ist in Wirklichkeit das Ergebnis konsequenter Denkprozesse, die mit einer zunehmend bewusster werdenden Lebenspraxis unterfüttert sind.

Eine aufsehenerregende Studie in den Vereinigten Staaten zeigte 1996, dass dort neben den bekannten Subkulturen der Traditionalisten und der Modernisten eine neue Bevölkerungsgruppe herangewachsen ist, die inzwischen unter der etwas sperrigen Bezeichnung der „Kulturell Kreativen“ bekannt ist und die zwischen 25 und 30 Prozent der Bevölkerung umfasst. Eine ähnliche Studie, die gegenwärtig von einem der ortsansässigen Unternehmen mit vorbereitet wird, wird demnächst erstmals den Anteil der Kulturell Kreativen in Deutschland und im übrigen Europa ermitteln. Die aktiven Bürgerinnen und Bürger in der Gemeinde Pulow dürften zusammen mit den KollegInnen aus der biologischen Landwirtschaft zu den Prototypen jener sich neu definierenden Bevölkerungsgruppe gehören.

Unsere Forderungen nach Gesundheit, Unversehrtheit, Nachhaltigkeit und Respekt vor dem Leben in der als Ganze lebendigen Natur sind somit keineswegs auf persönliche Empfindlichkeit weniger „Spinner“, „Träumer“ oder gar „Sektierer“ zurückzuführen, wie es gewisse prärationale Diffamierungsversuche immer wieder behaupten. Es sind vielmehr legitime Anliegen eines großen und immer größer werdenden Teiles unserer Bevölkerung. Diese Anliegen finden in dem scheinbar lokalen Anlass Gelegenheit, sich vernehmbar zu äußern. Sie werden stetig lauter werden und einen Einfluss auf unsere Gesellschaft nehmen, den sich heute noch keiner auszumalen vermag. Der Weg zu einer neuen, integralen Kultur mag Jahrzehnte engagiertester Arbeit benötigen. Sie können aber sicher sein, dass Sie in diesen Tagen einen weiteren wichtigen Beitrag zu diesem bewussten Neugestaltungsprozess unserer Gesellschaft erleben.

Wir dürfen den ländlichen Raum nicht als Ghetto begreifen: Früher waren die Dörfer die Orte, an denen Kultur entstand: Musik, Dichtung, Kunsthandwerk entsprangen einer lebendigen Dorfgemeinschaft. Die Zeiten sind vorbei: Heute gibt es kaum mehr genuine Landkultur, die über Heimatverein-Aktivitäten, von denen sich viele junge Leute nicht mehr angesprochen fühlen, hinausgehen. Es wird hauptsächlich eine Stadtkultur konsumiert, die in die Dörfer hineingetragen wird. In unserer wirtschaftlich abgesackten Region grassieren Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Gewaltbereitschaft besonders bei den Jugendlichen, wenig Kontakt und Zusammenarbeit über den eigenen Gartenzaun hinaus. Das hat viele gesellschaftliche Gründe, die ich hier nicht alle nennen kann. Wesentlich scheint, dass die Menschen die Beziehung zum Land, in dem sie leben, weitgehend verloren haben. Die Möglichkeit, das unmittelbar umliegende Land zu bebauen, würde vieles im sozialen Leben sanieren können. Stattdessen sind die Einwohnerinnen und Einwohner unserer dörflichen Siedlungen im 5.000-Hektar-Land regelrecht umzingelt von einer Agrarwüste, die keine Schönheit besitzt, die keinen Anlass mehr bietet, das Land, in dem man lebt, zu lieben. Wie können ohne diese Liebesfähigkeit Gemeinschaft und Kultur entstehen? Ein Dorf in unserer Ecke Vorpommerns wird heute kaum noch einen Caspar David Friedrich, keinen Philipp Otto Runge hervorbringen, weil ein junger Mensch, der hier aufwächst, sein Land nicht mehr in seiner zauberhaften Schönheit erlebt, sondern nur noch als auszubeutendes Substrat für genetisch identische Nutzpflanzen. (Alle konventionellen Landwirte, die anders wirtschaften, mögen mir hier diesen Rundumschlag verzeihen. Ich weiß, es gibt noch echte Bauern, die ihre Arbeit nach vielen Seiten hin abwägen, und Pulow ist eben ein sehr problematisches Beispiel.)

Wir kommen aber nicht weiter, wenn wir nur über die Probleme nachdenken und dabei selbst Teil des Problems bleiben. Wir stoßen vielmehr einen Prozess an, der den Missstand deutlich macht, und sagen: wir wollen Teil der Lösung sein! Ganz viele Leute müssen Teil der Lösung sein wollen, um uns aus dem von uns Menschen selbst angerichteten Schlamassel zu befreien.

Wenn wir das auf Gemeindeebene tun wollen, so stellen wir im konkreten Fall fest, dass uns ein wichtiges Werkzeug fehlt, unseren Beitrag zur Gesundung, zur Ökologie zu leisten und beispielsweise die wichtigen Ziele der Agenda 21, zu der wir eine lokale Agenda beschlossen haben, umzusetzen: das Recht nämlich, zu bestimmen, wie mit dem Land innerhalb der Gemeindegrenzen umgegangen wird. Eine unserer wichtigsten Forderungen an den Gesetzgeber ist daher, die Hoheitsrechte der Gemeinden um genau diesen Punkt zu erweitern und uns die Möglichkeit zu geben, unser Ziel zu verwirklichen, das da heißt: Ökologische Gemeinde Pulow!