Konzept für das Management des Risikos für freilebende Vögel und Säuger aus der Anwendung von „Pflanzenschutzmitteln“ unter Berücksichtigung indirekter Wirkung (Nahrungsnetz-Effekte) und besonders geschützter Arten

Etwa die Hälfte der Oberfläche Deutschlands wird von landwirtschaftlichen Nutzflächen bedeckt, die viele Vogel- und Säugetierarten Lebensräume bieten. Besonders unter den Vögeln gibt es kaum Arten, die diesen Lebensraum nicht wenigstens vorübergehend zur Nahrungssuche oder zur Rast nutzen. Die Bestände der in Agrarlandschaften in Deutschland und Europa vorkommenden Arten gehen jedoch überwiegend zurück. Mit der Intensivierung der Landwirtschaft haben sich die Lebensbedingungen für Agrararten verändert und viele Populationen sind unter erheblichen Druck geraten. Die Anwendung synthetischer Pflanzenschutzmittel (PSM) [oder auch Ackergifte] ist integraler Bestandteil der Intensivierung in der Landwirtschaft. Um negative Auswirkungen auf Nicht-Zielarten zu vermeiden bzw. zu reduzieren, werden bei der Zulassung neuer Präparate umfassende Risikobewertungen vorgenommen. Seit Inkrafttreten der EU-Richtlinie EC 1107/2009 ist die Biodiversität ein unabhängiges Schutzgut, das in die Risikoregulation der PSM integriert werden muss. Gegenwärtig konzentriert sich die Risikobewertung auf der EU-Ebene ausschließlich auf die toxischen Wirkungen von PSM, während geeignete Verfahren zur Berücksichtigung indirekter Wirkungen fehlen. Der aktuelle Stand der Wissenschaft deutet jedoch darauf hin, dass indirekte Wirkungen von PSM signifikant zum Risiko von Nicht-Zielarten in der Agrarlandschaft beitragen. In diesem Bericht werden die Auswirkungen von PSM-Anwendungen auf Vögel und Säuger der Agrarlandschaft untersucht, mit Schwergewicht auf den indirekten Auswirkungen. Zusätzlich werden Hinweise auf mögliche Maßnahmen zur Regulierung des Risikos gegeben.

Nach einer Einführung in die Entwicklung der Agrarstrukturen in Deutschland sowie den Gebrauch von Herbiziden, Fungiziden und Insektiziden hierzulande, werden die verschiedenen Vogel- und Säugetierarten in den Agrarlandschaften vorgestellt.

Bei den Wirkungen von Pestiziden auf Vögel und Säugetiere wird unterschieden in direkte und indirekte Wirkungen. Direkte Wirkungen entstehen durch die toxischen Kräfte von Pestiziden, die letale oder subletale Wirkungen auf Tiere haben. Letztere beeinflussen das Verhalten oder die Physiologie einzelner Tiere. Indirekte Wirkungen von Pestiziden erzeugen Veränderungen der Schlüsselressourcen wildlebender Populationen wie Nahrungsverfügbarkeit oder Habitatqualität. Sie können die Demographie von Arten verändern indem sie Fortpflanzungs- oder Überlebensraten vermindern.

Es wurden Daten gesammelt um die Sensitivität jeder Vogel- und Säugetierart gegenüber indirekten Auswirkungen von Pestiziden abzuschätzen. Die zu untersuchenden Schlüsselfaktoren sind die Wahrscheinlichkeit, mit der die Art indirekten Pestizid-Auswirkungen ausgesetzt ist und die Wirkung dieser Auswirkungen auf die entscheidenden populationsdynamischen Parameter der Art. Als wichtigste Auswirkung indirekter Pestizid-Effekte wurden die Verminderung des Nahrungsangebots und der Verlust der Bodendeckung als Schutz vor Prädatoren identifiziert. Der vorgestellte Pestizid-Sensitivitätsindex hat zum Ziel, die Bedrohung von Agrarvögeln und -säugetieren durch Pestizid-Anwendungen in Deutschland zu beschreiben.

Auf der Basis der Daten zu den direkten und indirekten Auswirkungen der PSM und auf der Grundlage von Expertenwissen wurde die Relevanz und die Auswirkungen der Stoffklassen der Herbizide, Insektizide, Fungizide, Rodentizide und Molluscizide auf die in diesem Bericht behandelten 27 Vogel- und 22 Säugetierarten untersucht. Unter allen Stoffklassen besaßen Insektizide und Herbizide die gravierendsten Auswirkungen auf Vogel- und Säugetierarten.

Nach der Untersuchung der indirekten Wirkungen von Ackergiften im Kontext der Intensivierung der Landwirtschaft sowie der Einflussnahme von Pestizideinsatz auf die Form heutiger Landwirtschaft, resultieren die Autoren die Gefährdungssituation von Agrarvogel- und Säugetierarten. Viele Arten sind durch indirekte Effekte des Einsatzes von Ackergiften betroffen. Folgend führen sie einige Maßnahmen für ein Risikomanagement (RMM) an und evaluieren deren Eignung. Die Eignung und Effektivität der RMM wird jedoch durch zwei Faktoren bestimmt: zum Einen ihre ökologische Effektivität zum Schutz der Vögel und Säugetiere in der Agrarlandschaft und zum Anderen ihre Durchführbarkeit und Akzeptanz bei den Landwirten. RMM-Strategien und deren Implementierung in die landwirtschaftliche Praxis werden angeführt. Dabei werden auch existierende Instrumente des Risikomanagements benannt, wie gesetzliche Regelungen zu Zulassung und Gebrauch von Ackergiften. Auch Steuern und Abgaben auf „Pflanzenschutzmittel“  werden thematisiert, wie auch eine Kosten-Nutzen-Analyse erstellt. Der ökonomische Vergleich einer Risikomanagement-Strategie mit Fokus auf Ausgleichsmaßnahmen gegenüber einem Verbot von Ackergiften, also einer Strategie, die den ultimativen Grund der Risiken beseitigen würde, zeige, dass die erstere generell geringere Kosten verursache.

Nach der Vorstellung von Risikomanagementmaßnahmen für besonders bedrohte Arten wie Rebhuhn, Rotmilan, Feldlerche, Bluthänfling, Grauammer, Ortolan, Feldhamster und Feldhase, kommen die Autoren zu dem Schluss, dass ein effektiver Schutz freilebender Vogel- und Säugetierarten vor den Risiken von Pflanzenschutzmitteln die indirekten Auswirkungen dieser Mittel berücksichtigen muss.

Adäquate Risikomanagementmaßnahmen müssen auf der Landschaftsebene ansetzen. Es liegen jedoch erst wenige publizierte wissenschaftliche Erkenntnisse zu den indirekten Auswirkungen auf Populationsniveau vor, die überwiegend aus Großbritannien stammen. Untersuchungen aus Deutschland oder anderen europäischen Ländern oder an Arten, die nicht in Großbritannien vorkommen, sind die Ausnahme. In dieser Hinsicht besteht ein dringender Forschungsbedarf, der nur durch groß angelegte Feldexperimente gedeckt werden kann, deren Ergebnisse publiziert werden müssen und nicht nur – wie gegenwärtig üblich – ausschließlich den Antragstellern für die Zulassung neuer Präparate zur Verfügung stehen sollten. Die Studien sollten die Ermittlung minimaler überlebensfähiger Populationen bzw. minimaler Dichten umfassen und dabei die Meta-Populationsstruktur berücksichtigen. Ziel der Studien soll sein, die Risikomanagementmaßnahmen zu optimieren und eine Grundlage für ein Konzept und eine effektive Strategie des Risikomanagements zu schaffen.

Quelle
Umweltbundesamt
https://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Forschungsdatenbank/fkz_3710_63_411_pflanzenschutzmittel_rmm_kurz_bf.pdf

Autor
Teresa Jahn, Hermann Hötker, Rainer Oppermann, Richard Bleil, Laura Vele

Kategorien: Studien