Maya Lukoff und Sebastian Heilmann bauen Gemüse für die Gemeinschaft Schloss Tempelhof an. Ihr langfristiges Ziel ist der Aufbau eines Ökosystems, in dem vielfältiges Leben gedeihen kann.

Maya hievt die siebzehnte Kiste Gurken auf den Anhänger ihres Fahrrads. Gut 170 Kilogramm frische Gurken haben die Helferinnen und Helfer binnen einer Stunde aus dem Gewächshaus geholt. Es ist ein heißer Morgen im Spätjuli, und die Gemeinschaft Schloss Tempelhof im nördlichen Baden-Württemberg erlebt eine Gurkenschwemme. Doch nicht nur Salatgurken gedeihen bei dem warmen Wetter. Auf dem Fahrrad-Hänger stapeln sich rote Tomaten, gelbe Zucchini, Auberginen in tiefem Lila und herrlich duftende Kräuterbündel. Mit routinierten, kraftvollen Bewegungen befestigt Maya den voll beladenen Anhänger an der selbstgebauten Kupplung ihres E-Bikes, setzt sich auf den Sattel und tritt in die Pedale. Der Elektro-Antrieb greift sofort und hilft ihr, die fast 400 Kilo schwere Last zu bewegen. Ein kurzer Schotterweg zwischen zwei Gewächshäusern führt zur befestigten Straße. Von dort sind es nur fünf Minuten bis in den Dorfkern von Schloss Tempelhof, wo Maya das Gemüse der Großküche übergibt. Eine derartig kurze Lieferkette hat sie bislang in keinem ­anderen Betrieb erlebt.

Mehr geben als nehmen
Maya Lukoff stammt aus dem Napa Valley, der Weinregion Kaliforniens. Während ihres Studiums der Anthropologischen Landwirtschaft hat sie erforscht, wie Kultur und Agrikultur sich gegenseitig prägen. In Bolivien baute sie drei Jahre lang alte, angepasste Sorten an. Dabei wurde ihr der praktische Kontakt mit der Erde wichtig. Für die Freie Ausbildung in biologisch-dynamischem Gemüsebau zog sie nach Deutschland. Auf einem der Ausbildungshöfe lernte sie Sebastian kennen und lieben. Sebastian Heilmann ist in der Nähe von Erlangen aufgewachsen. Sein Vater war das erste Familienmitglied gewesen, das an die Universität ging, statt den Erbbauernhof weiterzuführen. Sebastian wollte hingegen zurück zur Bodenarbeit. Das wurde ihm während des ­Zivildiensts in einer Camphill-Gemeinschaft in Indien klar: »Wie verwoben dort das Geistige und das Tun mit der Erde sind, hat mich begeistert!«
Maya und Sebastian erleben auf ihren Reisen durch viele Länder der Welt die überall dominierende industrielle Landwirtschaft als schmerzhaft. Sie selbst wollen dem Boden mehr geben, als von ihm zu nehmen. Auf den Äckern und Gärten um Tempelhof möchten sie ein sich selbst tragendes Ökosystem aufbauen – ein Zusammenspiel von Pflanzen, das den Menschen und Tieren des Orts guttut. Maya und Sebastian haben viel Wissen von ihren Reisen mitgebracht, den Rest lernen sie durch Ausprobieren. Außerdem fließen Ideen des Permakultur-Designers Stefan Schwarzer, der auch in Tempelhof lebt, in die Gartengestaltung ein.
Viereinhalb Jahre ist es her, dass Maya und Sebastian, beide Ende Zwanzig, zur solidarischen Landwirtschaft von Schloss Tempelhof gestoßen sind. Wenig später haben sie die Gärtnerei übernommen. Heute koordinieren sie zehn Angestellte und zahlreiche Helferinnen und packen selbst rund um die Uhr mit an. Von den beiden geht eine zufriedene Ruhe aus. Ihre Verbundenheit mit dem Ort und der Natur drückt sich auch in ihrer Wortwahl aus: »Der Hof ist aufgeblüht«, erzählt Sebastian und meint damit, dass sich viel entwickelt hat, seit sie in Schloss Tempelhof sind.
Eigentlich wollten sie nur für ein Jahr bleiben, ihr Handwerk in dem vielfältigen Mischbetrieb verfeinern und weiterziehen. Eine Lebensgemeinschaft zu finden, war nicht ihre Absicht gewesen. »Das ist organisch gewachsen«, meint Maya, und Sebastian ergänzt: »Wir kamen gerade an, als zeitgleich zwei Gärtner gegangen waren. In diesem Vakuum mussten wir ziemlich schnell Verantwortung übernehmen. Das hat uns hineinwachsen lassen und uns mit dem Ganzen hier verbunden – mehr, als wenn wir nur Lehrling und Gesellin gewesen wären.« Maya glaubt, dass sie ohne diese Gestaltungsfreiheit wohl nicht geblieben wären. Mittlerweile ist Tempelhof zu ihrem Lebens­mittelpunkt geworden.

Ein Biotop zum Sattwerden
In der Gemeinschaft Schloss Tempelhof leben gegenwärtig rund 100 Erwachsene und 40 Kinder. Etwas mehr als die Hälfte aller benötigten Lebensmittel beziehen sie aus eigenem Anbau; beim Gemüse erreicht ihr Grad an Selbstversorgung sogar 85 Prozent. Über die Gemeinschaft hinaus beliefern Maya und Sebastian mit ihrer solidarischen Gärtnerei noch mehr als 60 weitere Menschen, die 32 Ernteanteile beziehen. Ein weiterer Teil geht an Bioläden oder Restaurants. Maya ist der direkte Kontakt zu den Prosumenten sehr wichtig: »Ich glaube, das ist die einzige Art, eine gute kleinbäuerliche Landwirtschaft am Leben zu halten.«
Ganz oben auf den gestapelten Gemüsekisten, die Maya eben von den Gewächshäusern hoch ins Dorf transportiert hat, liegt ein bunter Strauß Dahlien. Er ist für die Küche. Mit den Blumen in der Hand öffnet Maya die Tür, hinter der die Küchen-Crew wuselt. »Sind die für uns?«, ruft eine Köchin, die gerade in einem großen Topf das Mittagessen zubereitet. »Wie schön!« Dann soll Maya den neuen Gurken-Kräuter-Aufstrich probieren. Die Küche geht kreativ mit der Gurkenschwemme um: Aufstriche, Schmorgurken, Eingemachtes – so gut wie alle Früchte werden veredelt, auch die krummen. »Ich habe noch nie auf einem Hof gearbeitet, der so wenig Ausschuss hat«, sagt Maya.
Die solidarische Landwirtschaft Schloss Tempelhof verfügt über knapp 28 Hektar Land. Eine Genossenschaft, die alle Betriebe der Gemeinschaft vereint, pachtet das Land von der Grund-­Stiftung. In deren Statut steht festgeschrieben, dass das Land ökologisch bewirtschaftet werden muss und nicht privatisiert werden kann. Die Felder und Wälder der Stiftung liegen rund um das kleine Dorf Tempelhof, in dem außer den Gebäuden der Gemeinschaft nur noch zwei private Wohnhäuser stehen. Zwei kleine Bäche schließen die einen Hektar große Fläche ein, auf der Maya und Sebastian Feingemüse, wie Fenchel, Zucchini und Mangold, anbauen. An diesen sogenannten Marktgarten schließen sich zwei Hektar an, auf denen Lagergemüse wie Kohl und Kartoffeln angebaut wird. 50 Meter weiter beginnt eine Mais-Monokultur. Wer auf das Surren und Zirpen der Insekten achtet, kann den Übergang von der Reinkultur des Nachbarbetriebs zu den Tempelhofer Feldern hören. Falter kreisen über dem Acker, Bienen und Hummeln tummeln sich in einem Streifen essbarer Blumen neben dem Gewächshaus, und ein paar Mal am Tag taucht ein großer Hase zwischen den Kürbispflanzen auf.
Die übrigen Flächen der Tempelhofer bestehen aus Äckern und Wiesen. Sie bauen auch ein wenig Getreide an, aber das ist nicht ihr Schwerpunkt. Vor allem betreiben sie auf den Feldern Bodenaufbau durch Gründüngungen.
Trotz der außerordentlichen Hitze in ganz Europa haben Maya und Sebastian diesen Sommer bisher keine großen Einbußen in der Ernte zu beklagen, ihre überschauberen Felder sind leicht zu bewässern. Das, was in Folge der Dürre von einigen Politikern und Medien als Landwirtschaft der Zukunft ersonnen wurde, wird in Tempelhof bereits seit einigen Jahren umgesetzt. Mehr noch, Maya und Sebastian pflegen Mischkulturen in einem bisher unbekannten Maß. Sie säen Pflanzen verschiedener Familien in einem Beet und setzen auf deren Synergien: Die Bohne bindet Stickstoff für den Mais. Die Gurken spenden Schatten für die Paprikas. Keine Pestizide, keine Gentechnik, keine schweren Maschinen – was in der Permakulturbewegung schon lange auf kleinen Flächen ausprobiert wird, setzen die beiden in ihrer Gärtnerei so um, dass davon eine große Gemeinschaft ernährt werden kann.
Der Boden rund um Tempelhof ist schwer und tonhaltig. Wird er mit schweren Maschinen und zu ungünstigen Zeitpunkten bearbeitet, verdichtet er sich noch mehr und trägt dauerhaften Schaden davon, wie Sebastian berichtet: »Wenn wir hier bei zu viel Feuchte mit einem Traktor drüberfahren, merken wir das noch Wochen später. Der Boden riecht dann nach Ammoniak, ein bisschen wie faule Eier«. Um das zu verhindern, wird die Erde in den drei großen Gewächshäusern nicht mehr mit dem Traktor, sondern nur mit einer Handfräse bearbeitet. Draußen auf den Feingemüsefeldern kommt nur eine motorisierte Maschine zum Einsatz: ein 120 Kilogramm schwerer Einachsschlepper, den man vor sich herschiebt wie einen Rasenmäher. Wo sonst mindestens 30 Zentimeter Platz zwischen den Möhrenreihen gelassen wird, damit die Hackmaschine hindurchkommt, wachsen in Tempelhof die Karotten im Abstand von 12,5 Zentimetern. Dieser Abstand widerspricht dem, was allgemein in Gärtnerschulen gelehrt wird, und zeigt: Gemüse kann sehr gut dicht nebeneinander wachsen und dabei dem Boden dienen. Mehr Wurzeln lockern den Boden auf, mehr Blätter bedecken ihn, und die intensiv genutzte Fläche lässt anderswo Freiräume für Wildblumen oder Kräuter entstehen, wo sich sonst das Gemüsebeet fortsetzen würde. Maya nennt das »biointensiven Anbau« oder »Market Gardening«.
Intensiv ist auch der Pflege- und Ernteaufwand ohne weitere Maschinen. Im Sommer sind an Vormittagen mindestens fünf Angestellte und Helfer mit Jäten, Hacken, Ernten und Nachsäen beschäftigt. Einige Menschen aus der Gemeinschaft verbringen in der Gärtnerei ihre Gemeinschaftsstunden. Das stärkt auch den Rückhalt für den »Wandel von Anbau zu Aufbau«, den Maya und Sebastian zusammen mit der Gemeinschaft vollziehen wollen. »Das große Potenzial von Tempelhof liegt darin, dass wir hier nicht nur in einzelnen Bereichen einzelne Werkzeuge ausprobieren, sondern ein ganzes Ökosystem gestalten können«, schwärmt Sebastian. Sie planen einen langsamen Wechsel vom Getreideanbau hin zu mehrjährigen Pflanzen, die Kohlenhydrate und Proteine liefern können, wie Nussbäume. Bäume, deren Wurzeln fünf bis zehn Meter tief und nicht – wie beim Getreide im Frühling – nur einen Zentimeter in die Erde reichen, sind viel resistenter gegen Trockenheit. Auch die natürliche Wasserlandschaft des Tempelhofer Tals wollen die beiden Gärtner zusammen mit der Gemeinschaft wiederbeleben; das Wasser soll wieder an die Oberfläche kommen, um neue Biotope zu schaffen.
Auf einem Flächenplan haben Maya und Sebastian in Zusammenarbeit mit Stefan Schwarzer und anderen Kollegen die Nussplantagen eingezeichnet. Es ist eine Skizze davon, wie die Zukunft hier aussehen könnte. Aber Sebastian und Maya wissen auch: Bis eine Esskastanie Früchte trägt, können zwei Jahrzehnte vergehen. Die Umstellung auf mehrjährige Systeme lässt sich nur schwer finanzieren, Subventionen gibt es nur für schnelle und kurzfristige Erträge. Pioniere des Wandels hin zu einem mehrjährigen Anbau gibt es nur wenige. Für die Übergangszeit tüfteln Maya, Sebas­tian und Stefan an Lösungen, die sowohl den Boden nähren als auch wirtschaftlich sinnvolle Erträge erzielen.
 

Grasdecken und Komposttees
Mit großer Experimentierfreude und dank vieler kleiner Momente des Scheiterns optimieren die beiden stetig ihre Anbaumethoden. Besonders bewährt haben sich Mulchsysteme und Fermente. »Unseren Hektar Feldgemüse bedecken wir mit Mulch von unseren Wiesen. Gerade in einem trockenen Jahr wie diesem merkt man, wie groß die Wasserersparnis dadurch ist«, erklärt Sebastian. »Mulchsysteme fördern den natürlichen Zustand des Bodenlebens. Unter natürlichen Bedingungen ist der Boden immer bedeckt. Mulch verhindert Erosion und schafft einen gesunden Lebensraum für die Mikroorganismen.« Mikroorganismen spielen nicht nur im Boden eine große Rolle, auch auf den Blättern der Tomatenpflanzen können bestimmte Bakterien und Pilze, die Maya und Sebastian in Komposttees züchten, die Pflanzen stärken und zum Beispiel schädliche Pilze verdrängen. »Bei den Komposttees sind wir allerdings noch in der Experimentierphase«, sagt Sebastian.
Zeit zum Experimentieren – das ist es, was Menschen brauchen, die den Boden hüten und sich und andere gleichzeitig davon ernähren möchten. Um sich über derlei Experimente auszutauschen, fand im Januar zum zweiten Mal das Symposium »Aufbauende Landwirtschaft« in Schloss Tempelhof statt. Initiiert und organisiert hat dieses Treffen Stefan Schwarzer, unterstützt vom Permakultur-Designer Burkhard Kayser.»Wir wollen innovativen Praktiken eine Plattform bieten: Landwirtinnen und Gärtnern, aber auch Leuten, die über neue Ansätze in ökonomischen und politischen Bereichen sprechen«, sagt Stefan. Das Spektrum der Teilnehmenden reicht von konventionell wirtschaftenden bis zu Demeter-Bauern, von gärtnerischen Kleinstbetrieben bis zu ackerbaulich orientierten 250-Hektar-Großbetrieben.
Stefan selbst hat in Tempelhof einen Waldgarten aufgebaut. Ein kleines Tor führt in den gut 400 Quadratmeter großen Garten, der sich an den Waldrand schmiegt. Von hier aus hat man einen freien Blick auf die Häuser der Gemeinschaft. Die Luft ist erfüllt vom Summen der Bienenvölker, die vor dem Waldgarten in Kästen nisten. Die orangefarbenen Taglilien leuchten in der Abendsonne. Stefan geht zwischen den Pflanzen umher, spricht ihre komplizierten lateinischen Namen aus, bleibt hier und dort stehen, um eine Blüte oder ein Blatt zu kosten. »Wir versuchen, mit dem Waldgarten ein Bild nachzuahmen, das eigentlich aus den Subtropen kommt, wo die Pflanzen in verschiedenen Stockwerken wachsen«, sagt Stefan. »Wir pflanzen große Obst- und Nussbäume, Sträucher in verschiedenen Größen und boden­bedeckende essbare Stauden. Wildgemüse ist nährstoffreich, lässt sich dauernd beernten und benötigt sehr wenig Pflegeaufwand.« Die Bäume in seinem Waldgarten sind noch sehr klein. Bald wird er sie, mitsamt den anderen Pflanzen, umsiedeln. Der gesamte Waldgarten soll in die Senke zu den Gewächshäusern auf den dortigen Acker genau gegenüber dem Marktgarten wandern. So bildet sich ein schöner Zusammenhang zwischen den beiden gärtnerischen Herangehensweisen, und es lässt sich leichter überblicken, was im Waldgarten geerntet werden kann.

Arbeiten oder tätig sein?
Mittlerweile ist die Sonne fast untergegangen. Maya und Sebastian kehren nach einem langen Tag zurück zu ihrem Bauwagen. Im Sommer arbeiten sie oft zehn oder elf Stunden am Tag, dann bleibt wenig Zeit für anderes. Doch sie scheinen nicht darunter zu leiden. Das liege auch an ihrem vielfältigen Arbeitsalltag, sagt Maya. Jeden Tag hat sie in der Gärtnerei unterschiedliche Menschen um sich, übt diverse Tätigkeiten aus und pflegt verschiedenste Kulturen. Die Vielfalt der unterschiedlich großen Pflanzen genießt Maya auch körperlich: »Es zieht mich stark zu schattigeren Orten, an denen mehrere Strukturen versammelt sind. Das ist wie im Wald, da fühle ich mich auch wohl. Ob man das dann noch ›arbeiten‹ nennt – oder nur ›sich aufhalten‹?«
Sie und Sebastian verbringen gerne Zeit in der Senke zwischen den zwei Bächen. Und im Winter? Da nehmen die beiden sich drei Monate frei, um zu reisen – um zu sehen, wie sich die Welt da draußen verändert, bevor sie sich wieder dem Wandel in Tempelhof widmen.


Adressen für eigene Einblicke
www.schloss-tempelhof.de
www.aufbauende-landwirtschaft.de

Quelle
Oya: enkeltauglich leben, Ausgabe 50
https://oya-online.de/article/read/3024-vom_anbau_zum_aufbau.html#

Autor
Leonie Sontheimer

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