Festvortrag anlässlich der Vereinbarung zum »Heiligenborner Wald – Dieter Mennekes Wildnis«, gehalten am 30.06.2014, Waldgut Heiligenborn

Dieter Mennekes stiftet in Nordrhein-Westfalen mit dem »Heiligenborner Wald« das erste private Wildnisgebiet Europas. Anlässlich dieses denkwürdigen Ereignisses hielt Michael Succow einen Festvortrag.

Wir sind heute zusammengekommen, um ein Ereignis zu feiern, das den deutschen Naturschutz verändern wird!

Denn hier »soll ein Wald sich selber leben«. Dieses Zitat stammt von dem preußischen Forstmann Dr. Max Kienitz (1849–1931). Es bildet den Schlusssatz seines am 29. Dezember 1906 gestellten Antrages an den preußischen Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten zur Ausweisung des Plagefenns im Nordosten Brandenburgs als nutzungsfreies Naturschutzgebiet. Bereits am 4. Februar 1907 wurde das Plagefenn das erste wirklich befriedete, von jeder forstlichen Nutzung freigestellte Waldnaturschutzgebiet in Deutschland mit einer Größe von 177 Hektar! Es war dies der Beginn, Wald aus dem Besitz des Staates aus der Nutzung zu entlassen. Damit tat man sich zumindest in Deutschland sehr schwer. Das Plagefenn blieb lange »allein«. Lediglich das Zehlau-Moor im heutigen Russland (Kaliningrader Oblast) wurde 1911 mit 2000 ha Moorland und 500 ha umgebenden alten Lindenwald vom preußischen Staat unter totalen Schutz gestellt.

Allerdings hatten aus tiefer religiöser Überzeugung in der Zeit der Romantik fürstliche Waldbesitzer bereits vor 200 Jahren kleine Teile ihres Waldbesitzes zu Heiligtümern erklärt, die fortan von Nutzung frei blieben. So z.B. Fürst Malte zu Putbus, der seiner Insel Vilm 1813 »Frieden gab«. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts verfügte Großherzog Georg von Mecklenburg-Strelitz die Schonung eines 25 Hektar großen Buchenbestandes im Forstamt Lüttenhagen. Dieses Waldstück ging als »Heilige Hallen« in die Geschichte ein und heute ist es der wohl älteste Buchen-Hochwald Deutschlands. Die Buchen erreichen ein Alter von fast 300 Jahren und werden vereinzelt über 50 m hoch!

Nach dem 1. Weltkrieg war es mit dem absoluten Verzicht auf eine Nutzung von Wäldern in Deutschland gänzlich vorbei. Ab dem ersten Deutschen Naturschutztag in München 1925 erklärte der Münchner Forstprofessor Fabricius: Waldbau ist kein Naturschutz sondern Wertschöpfung. Wer einen Wald vor dem Abholzen schützen will, muss ihn kaufen. Damit war alles gesagt.

Bezüglich der Umwandlung der natürlichen Vegetationsdecke nimmt Europa den vordersten Platz unter allen Erdteilen ein. Über 75 % des natürlichen Pflanzenkleides sind stark verändert, in Teilen zur Unkenntlichkeit abgewandelt worden. Aus einem Kontinent mit vorherrschenden Wäldern wurde überwiegend eine dicht besiedelte Offenlandschaft, die verbliebenen Waldstandorte wurden weitestgehend durch den Menschen gestaltete Forsten und die historisch gewachsene agrarische Kulturlandschaft ist inzwischen überwiegend von einer industriellen Agrarproduktion beherrscht.

Heute stellt sich die Frage:  Ist Wildnis in Mitteleuropa überhaupt möglich? Bis weit in das 20. Jahrhundert gab es in Deutschland praktisch keinen Hektar Boden mehr, der nicht in irgendeiner Weise der Befriedigung materieller Bedürfnisse der Menschen diente. Durch die Jahrhunderte währende Landnutzung sind alle Standorte, einschließlich der Gewässer, alle Böden verändert worden. Bei dem Thema Wildnis in Mitteleuropa kann es daher heute nicht mehr um die »ursprüngliche Natur«  nicht um eine unberührte (intakte) Natur gehen. Was aber beim Thema Wildnis zählt, ist die Entscheidung, eine konkrete, mehr oder weniger anthropogen veränderte Bodenfläche künftig nicht mehr zu bewirtschaften. Es geht um einen absoluten Nutzungsverzicht auf den für eine Wildnisentwicklung vorgesehenen Flächen.

Sehnsucht nach Wildnis
Natur ihrer Eigendynamik zu überlassen, sie nicht stofflich zu nutzen, oder sie wenigstens in kleinen Teilen als nutzungsfreie Schutzgebiete zu sichern, damit tat man sich bislang in Deutschland schwer. Zu tief steckt der Auftrag alles nutzen zu müssen im Bewusstsein der Menschen. Und doch gibt es eine wachsende Sehnsucht nach »Wildwuchs«  nach unreglementierter, wilder Natur – letztendlich auch nach einem guten Miteinander von Zivilisation und Wildnis. Wildnis, aus sich selbst heraus existierend, braucht den Menschen nicht. Aber der Mensch der technisierten Welt braucht Wildnis, auch als Maß und um seiner Demut willen. Wildnis ist eine notwendige Alternative zur zunehmend urbanisierten Welt. In diesem Sinne wird insbesondere aufgegebene Kulturlandschaft als Entwicklungsraum neuer Wildnis gesellschaftlich zunehmend akzeptiert.
Die Dominanz der auf Produktionsmaximierung ausgerichteten Nutzungslandschaft und die Reizüberflutung in den städtischen, von Technik beherrschten Räumen bewirken in immer größeren Teilen der Bevölkerung einen Bewusstseinswandel:  Sehnsucht nach Stille und Weite, nach Einsamkeit, ein bewusstes Erleben von nicht durch uns Menschen überformter Natur – auch Ausdruck eines zunehmenden ökologischen Bewusstseins.  

Die Wertschöpfung von werdender Wildnis besteht im Immateriellen wie Naturerlebnis, Naturerfahrung, Gesundheit, Spiritualität. Zukünftig könnte die In-Wert-Setzung ökologischer Leistungen eine erhebliche Wertschöpfung ergeben, über deren Größenordnung wir heute aber nur spekulieren können.
Wer es mit der Fortentwicklung des Naturschutzes ernst meint, darf sich einer Ausdehnung von »Wildnis« daher nicht (mehr) entgegenstellen. Das Erleben von Wildnis, von Natur, die aus sich heraus fortwährend Leben schafft und Leben vergehen lässt, wird das gesellschaftliche Bewusstsein und das Verhältnis des Menschen zur Natur verändern. In Anlehnung an Gedanken von Hubert Weinzierl sind Wildnisgebiete Heiligtümer in unserer Heimat, sind Seelenschutzgebiete, sind Erinnerungen an das Paradies, sind Landschaften, in denen Hoffnungen und Träume wachsen. Wildnis erlaubt Einblicke in das Schicksal sich selbst überlassener Natur, in der Werden, Vergehen und wieder neu Entstehen erlebbar sind.

Hermann Hesse schrieb vor fast 100 Jahren den Essay »Von der Seele«  in dem er seine Sicht zum Umgang mit einem Naturwald in einer Klarheit formulierte, wie es trefflicher kaum möglich ist:
»Erst wo wir nichts begehren, erst wo unser Schauen reine Betrachtung wird, tut sich die Seele der Dinge auf, die Schönheit. Wenn ich einen Wald beschaue, den ich kaufen, den ich pachten, den ich abholzen, in dem ich jagen kann, den ich mit einer Hypothek belasten will, dann sehe ich nicht den Wald, sondern nur seine Beziehungen zu meinem Wollen, zu meinen Plänen und Sorgen, zu meinem Geldbeutel. Dann besteht er aus Holz, ist jung oder alt, gesund oder krank. Will ich aber nichts von ihm, blicke ich nur gedankenlos in seine grüne Tiefe, dann erst ist er Wald, ist Natur und Gewächs, ist schön«.

Vielleicht darf ich an dieser Stelle etwas persönlicher werden:
Seit nunmehr 5 Jahren verbindet mich mit Dieter Mennekes eine ungewöhnliche Freundschaft, ein tiefes Verständnis. Durch gemeinsames Erleben von unreglementierter, nicht unserm Gestaltungs- und Herrschaftswillen unterworfener Natur wurden wir »Brüder im Geiste«. – Vor einem Jahr lud Dieter Mennekes mich zusammen mit Lutz Fähser in seinen Heiligenborner Wald ein. Schon lange bewegte ihn das Thema »Was kann ich zum Ende meines Lebens wieder gutmachen, der Natur zurückgeben«. Denn, so seine Weisheit, »wem nützt es, der reichste Mann auf dem Friedhof zu sein«. Er sponserte Manches, bewirkte viel Gutes. Das Thema Natur unversehrt zu lassen wurde ihm immer wichtiger. Und so festigte sich bei unserer Wanderung durch den Heiligenborner Wald die Vision, größere Teile dieses Waldes (>300 ha) als ein Geschenk an die Natur ihrer Eigendynamik zu überlassern. Ganz im Sinne von Max Kienitz: »Hier soll der Wald sich selber leben«. Dieter Mennekes entschloss sich, in Teilen seines Waldes den Bäumen ihr ganzes, ihr volles Leben zu gewähren. Und dabei zukünftig nur noch Zuschauer, Lernender, Staunender zu sein. Noch klingt mir sein Satz im Ohr: »Wunderschöne Wittgensteiner Wälder wollen Wildnis werden!«

Ein geheimnisvoller Wald wird sich entfalten mit Wildkatze und Waldstorch und an den drei Bächen werden sich wieder Fischotter und Biber ansiedeln. Diese Entscheidung eines privaten Waldbesitzers, auf die wirtschaftliche Ausbeutung seines Waldes zukünftig zu verzichten, ist in einer Zeit wachsender Gier so einmalig, so ungewöhnlich, dass es höchste Würdigung durch die Gesellschaft zu erfahren hat. Und es sollte nicht ein Einzelfall bleiben. Einen Wald zu befrieden, ihm seine Integrität wiederzugeben, stellt diesen Schritt in eine Reihe mit dem Nutzungsverzicht fürstlicher Waldbesitzer vor mehr als 150 Jahren. Und in der Tat sind diese wenigen, alt gewordenen Waldreste heute wahre Anziehungspunkte für naturverbundene Menschen, insbesondere auch Förster aus allen Teilen Deutschlands und darüber hinaus.

Es gibt in unserer »Welt voller Wunden« auch anderwärts Initiativen privater Landbesitzer, der Natur etwas zurückzugeben. Ich möchte hier kurz über den Queen Elizabeth II National Trust in Neuseeland berichten. Peter Elworthy und seine Frau Fioni, eine Familie aus der Reihe der frühen Einwanderer der Südinsel, hatten für sich vor über 35 Jahren den Entschluss gefasst, 5 % ihres großen Landbesitzes, vornehmlich Offenland, fortan nicht mehr zu nutzen, der Natur zurückzugeben  –  nicht vom Staat angewiesen, nicht von NGO erzwungen, nein, aus tiefer Liebe und Achtung zur Natur, vielleicht auch ein wenig aus dem Bedürfnis der Wiedergutmachung. Dieses Vorbild weitete sich  zu einer Bewegung der großen Landbesitzer, die 1977 in der Gründung einer unabhängigen Organisation, dem Queen Elizabeth II National Trust, gipfelte. Inzwischen sind in dieser Organisation über 3.600 Landeigner vereinigt, Hunderttausende von Hektar Land befriedet: Grasländer, Flüsse, Seen, auch Waldland.

Ich wünsche mir, dass Deutschland diesem Beispiel folgen möge, der Anfang ist gemacht. Dieter Mennekes  ist der Pionier. Ich erlebe Dieter Mennekes als einen glücklichen Menschen, beflügelt für weitere Taten zum Erhalt unserer Lebensgrundlage, dem Wunderwerk Natur.

Wir Menschen haben zu lange gegen die Natur gekämpft, haben uns über sie erhoben, wollten sie beherrschen. Nun, da die Schäden unübersehbar, die Verluste  z.T. irreversibel sind, ergreift uns Unbehagen, auch Mitleid, vor allem aber Sorge. Sorge um unsere eigene Zukunft. Und Zweifel: wer ist wirklich der Stärkere?! Wie weit darf sich der Mensch von der Natur entfernen, ihre Tragekapazität überfordern? Das Projekt Natur geht weiter, aber wohin steuert das Projekt Mensch, ein Projekt mit unbekanntem Ausgang?

Ein Umgang mit Natur in zweckfreier Betrachtung ist kein Luxus, sondern muss Teil unserer Kultur werden. »Werdende Wildnis« ist dafür ein geeignetes Konzept. Wo, wenn nicht dort, finden Menschen zu Naturerfahrung, zu Naturbewunderung, zu Naturliebe. Erst aus Liebe und Kenntnis wächst Verantwortung – und das führt letztlich zu aktivem Handeln, zur Bewahrung unserer Lebensgrundlage, die auch in Zukunft die Natur sein wird, sein muss!

In einer Zeit wachsender Orientierungslosigkeit und Entwurzelung können wir im Erleben unverletzter »heiler« Natur zu geistig-seelischem Wohlbefinden, zu künstlerischer Inspiration, zu Hoffnung, aber auch zu notwendiger Ehrfurcht vor der Natur, zu neuer Spiritualität und zu Bescheidenheit gelangen. Beginnen wir einen Paradigmenwechsel!

Quelle
www.succow-stiftung.de

Autor
Prof. Dr. Michael Succow

Kategorien: Humusrevolution