2018 | Diskussion Nr. 16

Mit den Diskussionspapieren bietet die Akademie der Leopoldina Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit, flexibel und ohne einen formellen Arbeitsgruppenprozess Denkanstöße zu geben oder Diskurse anzuregen und hierfür auch Empfehlungen zu formulieren. Mit dem vorliegenden Papier fordert die Expertengruppe strengere Zulassungsverfahren für Pestizide.

Im Diskussionspapier wird aufgezeigt, dass die derzeitigen Verfahren viele ökologische Auswirkungen im Freiland nicht abbilden. Pflanzenschutzmittel sind oft länger im Boden und in Gewässern nachweisbar als im Rahmen der Zulassung beabsichtigt. Die Expertinnen und Experten schlagen daher unter anderem ein Beobachtungssystem vor, mit dem die langfristigen Auswirkungen der Pflanzenschutzmittel auf Ökosysteme nach einer zunächst zeitlich und räumlich begrenzten Zulassung überprüft werden.

Im Diskussionspapier werden ausführlich Handlungsempfehlungen aufgezeigt, zur Verbesserung der Risikobewertung im Zulassungsverfahren, zur Weiterentwicklung einer systematischen Risikowissensgenerierung in der Nachzulassungsphase, zur Verbesserung der Pflanzenschutzmittelanwendung (wie etwa bei der Aus- und Weiterbildung der Landwirte, Einführung von Pestizidabgaben, Anreizinstrumente, u.a.) sowie Empfehlungen für den Verwaltungsvollzug und die Forschung.

Die Experten resümieren in ihrem Fazit:

»Die konventionelle landwirtschaftliche Pflanzenschutzpraxis hat einen Punkt erreicht, an dem wichtige Ökosystemfunktionen und Lebens- grundlagen ernsthaft in Gefahr sind.115 Bisherige Lösungsansätze sind an ihre Grenzen gekommen und es besteht dringender Bedarf zu han- deln; Ansätze hierzu wurden in dieser Schrift formuliert. Das kritische Hinterfragen lange akzeptierter Dogmen und Praktiken sowie eine in- terdisziplinäre Herangehensweise sind hierfür unabdingbar.

Insgesamt müssen die vielfältigen Umweltbelastungen durch Pestizi- de im größeren Rahmen der europäischen Agrar- und Chemikalienpolitik gesehen und behandelt werden. In beiden Bereichen ist grundsätzliches Umdenken erforderlich. Auch globale Aspekte müssen berücksichtigt wer- den, z.B. bei den in großen Mengen importierten Soja-Futtermitteln, de- ren Produktion nicht den hiesigen Regularien entspricht und Belastungen mit problematischen und hierzulande verbotenen Pestiziden in unbekann- ter Höhe mit sich bringen kann. Die intensive, konventionelle Landwirt- schaft lässt sich in der heutigen Form aus vielen Gründen nicht langfristig fortführen; ihre Umweltbelastungen (z.B. Nitratbelastung des Grundwas- sers, Habitatverlust für Vögel und Insekten, Bodenverdichtung, Verlust der biologischen Vielfalt einschließlich der Diversität von Fruchtpflanzen) sind zu hoch und dennoch ist der wirtschaftliche Ertrag für viele Landwirte zu niedrig. Die Pestizidproblematik muss als ein wichtiger Aspekt dieses sys- temischen Problems und seiner Lösungen gesehen werden.

Die Chemikalienproblematik gestaltet sich ähnlich, geht aber insge- samt über die Pestizidproblematik hinaus. Auch das Zulassungsverfah- ren für Chemikalien erfordert – trotz der Einführung von REACH116 – ein Umdenken. Zentral ist, dass Pestizide im Zusammenhang mit der Anwe- senheit vieler anderer Substanzen, denen Mensch und Umwelt ausge- setzt sind (Pharmazeutika, Biozide, Düngemittel, Industriechemikalien), betrachtet werden müssen. Die Kombinationswirkungen mehrerer Sub- stanzen, die gleichzeitig oder auch nacheinander auf einen Organismus einwirken, wie dies in Tankmischungen oder durch sequenzielle Anwen- dungen (Spritzserien) erfolgt, werden in der Risikobewertung systema- tisch ausgeblendet. Dadurch werden die Risiken durch Chemikalien sys- tematisch unterschätzt.

Wir sind der Überzeugung, dass die hier aufgezeigten Erkenntnisse über unerwünschte Wirkungen von Pestiziden eine maßgebliche Be- deutung für die Zulassungsentscheidung und für die Anwendung von Pestiziden haben müssen und dass die kontinuierliche wissenschaftli- che Beobachtung der Wirkungen von Pestiziden effektiv in das Kontroll- system einzuspeisen ist. Dies bedeutet, dass das Kontrollsystem auch nach der Zulassungsphase konsequent zur Generierung weiteren Risi- kowissens anhalten muss.

Es sollte im Interesse aller sein, Anbau- und Pflanzenschutzstrate- gien zu erarbeiten, die langfristig ausreichende Erträge gewährleisten, ohne dabei die Umwelt nachhaltig zu schädigen. Wesentliche Grundla- gen hierfür bieten u.a. ein konsequenter integrierter und ökologischer Pflanzenbau – d.h. Pestizideinsatz nur als ultima ratio, eine standortge- rechte Frucht- und Sortenwahl, die Zucht von konkurrenzstarken und gegen Schaderreger resistenten Sorten und ein möglichst maßvoller Einsatz möglichst spezifischer, wenig persistenter Agrochemikalien. Wir plädieren zu diesem Zweck entschieden für einen partizipativen Ansatz mit allen betroffenen Akteuren. Basis der Verhandlungen sollten ge- meinsame Werte sein, insbesondere langfristig sauberes Trinkwasser, Nahrungsmittelsicherheit und eine vielfältige, artenreiche und ästhe- tisch ansprechende Umwelt.

Insgesamt halten wir fest, dass es bei Weitem unzureichend wäre, die Pestizidproblematik mit punktuellen, spezifischen Maßnahmen an- zugehen, da sie eng mit verschiedenen anderen Faktoren gekoppelt und daher schwerer zu bearbeiten und zu lösen ist als isolierte Prob- leme. Deshalb ist es dringend geboten, die Pestizidproblematik als sys- temisches Problem zu sehen und zu behandeln. Andernfalls werden sich Entwicklungen wie Insektenschwund, Aussterben von Vogelarten,

Grundwasser- und Bodenbelastung durch Pestizidrückstände etc. wei- ter verschärfen. Neben spezifischen und lokalen Maßnahmen müssen in der europäischen Agrar- und Chemikalienpolitik unbedingt neue Per- spektiven gefunden werden.«

Quelle
Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften
https://www.leopoldina.org/presse/nachrichten/diskussionspapier-pflanzenschutz/

Autor
Andreas Schäffer, Juliane Filser, Tobias Frische, Mark Gessner Wolfgang Köck, Werner Kratz, Matthias Liess, Ernst-August Nuppenau, Martina Roß-Nickoll, Ralf Schäfer, Martin Scheringer

Link
»Der Stumme Frühling – Zur Notwendigkeit eines umweltverträglichen Pflanzenschutzes (2018)«