Mehr als nur ein Ausflug in die Kulturgeschichte: Ein Anfängerkurs im Umgang mit Zugrindern.
Auch ökologisch wirtschaftende Bauernhöfe verbrauchen fossile Kraftstoffe. Sind Zugtiere eine Alternative, um vom Öl wegzukommen?
Noch bis in die 1960er Jahre hinein wurde in Deutschland mit Zugtieren gearbeitet. Zahlen von 1934 belegen 2,4 Millionen Pferde und 2,7 Millionen Rinder im Einsatz, wobei es sich bei Letzteren in den meisten Fällen nicht um Ochsen (0,3 Millionen) sondern um Kühe (2,4 Millionen) handelte. Demnach wurde fast jede vierte Kuh für Zugarbeiten genutzt.
Ich möchte mehr über die Arbeit mit Rindern erfahren und mache mich auf den Weg: nicht ins Allgäu und auch nicht ins Schweizer Bergland – sondern in die Hauptstadt. Im Südwesten Berlins liegt die Domäne Dahlem, ein Freilandmuseum für Agrar- und Ernährungskultur mit ökologischem Schwerpunkt, dessen Gelände auf eine 800-jährige Geschichte zurückblicken kann. Einst Rittergut und später preußische Domäne, war der landwirtschaftliche Betrieb lange für die Milchversorgung der Metropole verantwortlich gewesen. Seit 2008 ist dort das »Zugrinderprojekt« zu Hause, das Wissen über die kulturhistorische Bedeutung des »Dreinutzungsrinds« vermitteln möchte. Das bedeutet, dass ein Tier nicht einseitig auf ein Leistungsmerkmal hin gezüchtet wurde, sondern auf mehrere Nutzungsarten: Milch, Fleisch und Zugleistung. Traditionelle Rinderrassen mit diesen Eigenschaften fallen heute mehr und mehr dem Spezialisierungsdruck der Agrarindustrie zum Opfer. Laut der Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen (GEH) stirbt alle zwei Wochen eine an Klima und Standort angepasste Nutztierrasse aus. Die Domäne Dahlem ist ein Arche-Hof und hält auf ihren 12 Hektar Betriebsfläche Tiere, die auf der »Roten Liste gefährdeter Nutztierrassen« der GEH zu finden sind, darunter auch das Rote Höhenvieh, das dort von Astrid Masson neben dem Deutschen Schwarzbunten Niederungsrind zur Ackerbearbeitung ausgebildet und ein-
gesetzt wird. Astrid Masson ist seit 17 Jahren für den Bereich Landwirtschaft zuständig und gibt gelegentlich eintägige Workshops, in denen Anfänger den Umgang mit Rindern erfahren können. Das zieht sowohl Menschen mit eigenem Hofbetrieb an als auch solche, die noch nie auf Tuchfühlung mit einer Kuh gegangen sind.
Mit der Kuh an der Leine
»Pferde haben den Sprung in die Freizeit geschafft und sind dadurch den meisten Menschen bekannter als Rinder in der Anspannung«, erläutert Astrid Masson unserer kleinen Seminargruppe. Zwar gebe es eine kleine, eingeschworene Szene von Zugrinder-Liebhabern. Weniger als die Hälfte der etwa 60 Menschen, die sich auf dem entsprechenden Internetforum tummelten, hielten aber eigene Zugtiere, und nur ein kleiner Teil arbeite wirtschaftlich mit diesen; die meisten betrachten Anschaffung und Ausbildung der Tiere als Hobby. Astrid Masson ist in Mitteleuropa lediglich ein Hof bekannt – der von Phillippe Kuhlmann im Elsass –, wo Rinder den Traktor gänzlich ersetzen.
Vorbei an den Ställen, den gurgelnden Truthähnen, den Gemüsegärten und Koppeln der Deutschen Sattelschweine und Pommerschen Landschafe kommen wir zur Wiese, auf der eine kleine gemischte Viehherde, darunter einige Kälber und ein Bulle, weidet. Das Rote Höhenvieh wird als das kräftigste Zugrind Deutschlands bezeichnet. Die Tiere gelten als sehr lebhaft und temperamentvoll, gleichzeitig auch als widerstandsfähig und genügsam. Sowohl Ochsen als auch Kühe entwickeln enorme Kräfte. Sie besitzen äußerst harte Klauen, sind sehr ausdauernd und lassen sich im Geschirr gut lenken. Auch das Deutsche Schwarzbunte Niederungsrind finden wir in der Herde. Dieses wurde eher auf eine hohe Milchleistung hin gezüchtet. Unsere Workshopleiterin betont jedoch, dass es letztlich vom Charakter des individuellen Tiers abhängt, ob es sich zum Anlernen für die Zugarbeit eignet oder nicht.
Unsere erste Übung: ein Kettenhalfter anziehen. Astrid arbeitet nach dem Prinzip »Belohnung«, und so haben wir sämtliche Jacken- und Hosentaschen mit kleinen Kartoffeln vollgepackt, um den Tieren die Prozedur schmackhaft zu machen. Sitzt das Halfter, geht jede Teilnehmerin mit Kuh, Kalb oder Bullen (!) am Strick spazieren, um die Kommandos zum Mitlaufen (»Hopp«), Anhalten (»Haaalt«) und Zurücksetzen (»Zurück«) samt Zupfsignale am Strick zu üben. Es ist beeindruckend, ein Tier von vielen Hundert Kilo Gewicht am Strick zu führen. Beim Wechseln zur anderen Weide bekomme ich das deutlich zu spüren: Als einige Tiere bereits den Weg passiert haben und ich noch mit Kuh »Lütti« auf der einen Weide stehe, gerät sie ein bisschen in Panik – und ich mit ihr, als ich spüre, welche Kräfte in ihr schlummern.
»Der Herdentrieb ist beim Rind der stärkste Trieb überhaupt«, werde ich später von Astrid hören. Zunächst geht es entspannt weiter; beim Striegeln bekommen Tiere und Viehführerinnen die Gelegenheit, sich ein bisschen miteinander vertraut zu machen. Anspruchsvoller ist die Übung »Rückwärts Einparken«, die für viel Erheiterung sorgt. Die Tiere sollen rückwärts zwischen zwei liegenden Stricken, die stellvertretend für die zwei Scherbäume beim Einspänner stehen, zum Stehen kommen. Allmählich beginne ich zu begreifen, wie konsequent ich sein muss, wie aufmerksam mit der eigenen Körpersprache, wie klar mit den Kommandos. »Schuld beim Tier gibt es für mich nicht«, erklärt Astrid. »Es ist immer der Mensch, der etwas zu schlecht oder zu schnell erklärt. Auch wenn eine Kuh dir einen Tritt versetzt, ist das kein Fehlverhalten des Tiers, sondern dessen allerletzte Angstmaßnahme und darf niemals bestraft werden.«
Pferde brauchen mehr
Die besonders neugierigen Kühe haben ein anderes Verteidigungsverhalten als Pferde. In der Regel schlagen sie nicht aus, und ihr Fluchtinstinkt ist nicht so ausgeprägt wie beim Ross. Vermutlich sind daher Rinder lange vor dem Pferd domestiziert und für die Ackerarbeit eingesetzt worden. Fluchttiere verbrauchen zudem mehr Energie, und damit bleibt ein Rind dem Pferd gegenüber auch »günstiger im Verbrauch«. Das Rind, ein Wiederkäuer, mutet sich pro Tag zwar ein Viertel bis ein Drittel seines Körpergewichts an Nahrung zu, mehr als Pferde, doch Rinder sind nicht anspruchsvoll und mit jeder Weide zufrieden: Sie haben gar keine Zeit, wählerisch zu sein, wenn sie so viel zu sich nehmen müssen. Je nachdem, wie intensiv sie als Zugtiere eingesetzt werden, schwankt ihr Bedarf, auch abhängig davon, ob sie eine gewohnte Arbeit verrichten oder unter Stress stehen, übermüdet und erschöpft sind. Die Futterbeschaffung für den »Hafermotor« Pferd konnte im 19. Jahrhundert jährlich 100 bis 150 menschliche Arbeitstage beanspruchen. So konnten sich die meisten Bauern ein Pferd, das nichts anderes kann, als Ziehen, kaum leisten. Eine große, kräftig gebaute Kuh kann ein kleineres Pferd in seiner Arbeitsleistung durchaus übertreffen. »Schnelligkeit auf Dauer« nennt Astrid den relevantesten Vorteil des Pferds gegenüber dem Rind, das zwar für eine kurze Strecke traben kann, doch eben nicht auf lange Distanzen.
Wer sich ein Zugtier anschaffen möchte, muss sich fragen, was zum Hof passt: Will ich lange Kutschfahrten unternehmen? Mit den Tieren ackern? Vor allem Milch und Fleisch ernten? Es scheint am sinnvollsten zu sein, mit Kühen zu arbeiten, wenn sie ohnehin auf dem Hof gehalten werden: Schließlich übersteigt das Budget für die Aufzucht einer Kuh heute den Kaufpreis eines Pferds.
Tier versus Traktor
Die Arbeit mit Zugtieren erfordert die richtigen Werkzeuge. Astrid Masson gibt unserer Seminargruppe eine Einführung in Geschirrkunde. Es gibt verschiedene Joch-Typen und Geschirre, wie etwa das Stirnjoch oder das Dreipolsterkummet, die die Kräfte des Tiers auf unterschiedliche Weise umsetzen. Zur Demonstration werden gleich zwei Rinder angespannt – das eine zieht einen Schlitten mit unseren Gerätschaften, das andere uns selbst in der Kutsche zum Acker. Dort bekommen beide Kühe jeweils eine Egge angespannt, und dann geht es los! Wir dürfen erfahren, wie es sich anfühlt, das Feld zu Fuß zu bearbeiten und mit einer erfahrenen Kuh Schritt zu halten. Im Anschluss setzen wir auf einen anderen Acker über und bekommen vorgeführt, wie eine Netzegge im Doppelgespann über das Feld gezogen wird und wie sehr man mitunter damit beschäftigt ist, die Kühe unter Kontrolle zu halten.
Ist die Zugrindernutzung mit der Leistung eines Traktors überhaupt vergleichbar? Ja, sie ist es – und es lassen sich dabei viele Vorteile nennen, die für die Tiere sprechen. Zwar bringt ein Rind nur eine bis anderthalb Pferdestärken auf, und ein Traktor leistet oft über 150 PS, aber Zugtiere sind leichter als moderne Landmaschinen – so hinterlassen sie weitaus weniger verdichteten Boden. Die niedrigere Arbeitsgeschwindigkeit schont Boden, Flora und Fauna gleichermaßen, und an den Ackerfrüchten sind weniger Schäden zu verzeichnen, wenn Tiere statt Maschinen Dünger ausbringen, häufeln oder hacken. Solche Pflege kann man einem Acker mit Zugtieren auch noch zu einem Zeitpunkt angedeihen lassen, zu dem ein Traktor die Pflanzen verletzen würde. Zudem entfällt der Geräuschpegel landwirtschaftlicher Maschinen. Ein Rind kann Menschen nicht nur mit emissionsfreier Zugleistung, Fleisch und Milch versorgen, sondern auch mit wertvollem Dung, mit Knochen und Hörnern – beides kostbar für die Bodenverbesserung –, mit Haut und Fett. Stiere spenden zudem Sperma zur Nachzucht der Art.
Anschaffung und Unterhalt von dieselfressenden Traktoren sind teuer. Dementsprechend werden heute nach wie vor 66 Prozent der planetaren landwirtschaftlichen Fläche mit Zugtieren bewirtschaftet. Über 250 Millionen Zugtiere waren 2011 weltweit im Einsatz – das heißt mehr Tiere als Traktoren! Geografische Spezialisierungen reichen hierbei von der Arbeit mit Wasserbüffeln (Asien), Yaks (Himalaya) über verschiedene Vertreter der Buckelrinder (südliche Erdhalbkugel) bis hin zu Kamelen, Elefanten, Eseln, Mulis, Ziegen und Hunden. In manchen Gegenden ist sogar eine Zunahme der tierischen Anspannung zu verzeichnen, etwa in West- und Ostafrika, Pakistan und Afghanistan – eine Entwicklung, die wohl nur anhält, solange die Menschen sich motorisierte Alternativen nicht leisten können. Die Medien vermitteln, dass die Arbeit mit Zugtieren rückständig sei – dabei trägt sie zum Weg aus der Armut bei.
Es rechnet sich auch
Die Rentabilität der Zugrinderhaltung ist schwierig zu ermitteln, da die Kosten von vielen Faktoren abhängen. Das von Klaus Strüber für die Gesellschaft für Landwirtschaft und Pädagogik e. V. durchgeführte Forschungsprojekt »Humussphäre« untersucht energiesparende und humusaufbauende Methoden in der Landwirtschaft mit Fokus auf der Arbeit mit Pferden. Dort findet sich eine Aufstellung der verschiedenen Kostenpunkte beim Pferd im Vergleich zum Traktor. Obgleich das Projekt noch nicht abgeschlossen wurde, ist doch absehbar – und dies lässt sich parallel zur Arbeit mit Rindern setzen – dass der Einsatz der Tiere höhere Lohnkosten verursacht als der Traktor, da er mehr Zeit beansprucht. Dagegen liegen die Investitionen und laufenden Kosten beim Traktoreinsatz höher. So eignen sich Zugtiere vor allem für kleinere Betriebe, wo geringere Investitionen die Langsamkeit der Tiere wieder aufwiegen. Gemäß einer Studie der Michigan State University von 2005 liegt die Rentabilität von Betrieben, die bei einer maximalen Betriebsgröße von 60 Hektar mit Zugtieren arbeiten, höher als bei motorisierten Höfen gleicher Größe. Letztlich ist die Freude beim Umgang mit den Tieren ausschlaggebend dafür, ob sich Menschen für die Arbeit mit ihnen entscheiden oder nicht. Selbstverständlich ist es harte, zeitaufwendige Arbeit – man stelle sich nur vor, die gesamte Heuernte mit Zugtieren ausführen zu müssen! Die Belohnung liegt hier im Genuss der Beziehung zum Tier.
Auch ich wurde reich beschenkt durch die intensive Begegnung mit den Kühen in der Domäne Dahlem, die gerne damit wirbt »einziger Bio-Bauernhof mit U-Bahn-Anschluss« zu sein. So steige ich nach meinem Tag auf dem Acker in die nächste Bahn – den Duft der Kühe noch immer an meinen Händen. •
Interesse an einem Arbeitsverhältnis zwischen Mensch und Rind?
www.zugrinder.de
http://kurzlink.de/Zugrinderprojekt
www.hof-hollergraben.de/files/Humussphaere_2011.pdf
http://kurzlink.de/AnimalTraction
http://kurzlink.de/AnimalTractionCuba
Quelle
Oya – anders denken. anders leben, Ausgabe 33
https://oya-online.de/article/read/1940-kuhkraft_statt_dieselmotor.html
Autor
Silke Hoffmann
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