Der Ökobauer Sepp Braun arbeitet am Gold der Zukunft – am fruchtbaren Boden.

Der Bauer Sepp Braun will das Übel an der Wurzel packen. Wortwörtlich. Eine Wende zum Guten sieht er nur, wenn wir unsere Verantwortung erkennen und in die Tiefe gehen. Wortwörtlich.

Das Schwein räkelt sich im blumig duftenden Heu. Grunzend, fast gurrend, kommen die Bekundungen des Wohlfühlens. Ein schwarzweißes Kalb leckt die rosa Ferkel­ohren. Wo gibt es noch Bauern, die ihre Schweine von Kälbern verwöhnen lassen? Im Stall von Sepp und Irene Braun, in Dürneck 23 an der Bundestraße 11, südlich von Freising, unweit der Milchfabrik von Weihenstephan – da gibt es so etwas!

Das Schwein hat die Augen geschlossen, die Kalbszunge kann gar nicht von den großen Ohren lassen. Fast ein erotisches Bild.
Keine zehn Meter von der Idylle entfernt zieht Sepp Braun einer trächtigen Kuh, die am Boden liegt, ein Strickhalfter über und biegt den Kopf zur Seite, fixiert das Seil an einem Bein. Die Kuh gibt ein gequältes Ächzen von sich. Ein zweiter Mann – es ist der herbeigerufene Tierarzt – hat zwei Spritzen in der Hand; er holt Blut aus der Halschlagader, dann verabreicht er ein Antibiotikum. Er legt sich auf den gewölbten Bauch, horcht: Der Pansen arbeitet! Er gibt Ratschläge für die Nacht und ist wieder weg.

Die braune Kuh streckt ihren linken Hinterlauf von sich, das Fußgelenk ist stark geschwollen. Zwei andere Kühe blicken auf sie hinunter, als ob sie wüssten, dass es nicht gut ist, wenn eine der Ihren mit ausgestreckten Beinen auf der Seite liegt. Von draußen schaut der Stier ganz kurz in den Stall. Er sei es gewesen, er sei für den Unfall verantwortlich, höre ich, er habe die Schwangere bedrängt, sie sei ausgewichen und dabei ausgerutscht. Man ist froh am Hof, dass im Fuß nichts gebrochen ist. Bei einem Bruch muss man notschlachten.

»Gehen wir ins Haus«, sagt Sepp Braun. Der Heuduft kommt mit.
Ein Bioland-Hof mit eigener Käserei, in ganz Bayern und darüber hinaus bekannt, auf dem Tisch Bio-Säfte – und dann Antibiotika? Der Braun Sepp hat diese Frage erwartet. Einen Tierarzt rufen sie an diesem Hof so gut wie nie. »Bei einem gesunden Boden entsteht gutes Futter, bei gutem Futter bleiben die Tiere gesund. Wir brauchen ganz, ganz selten einen Arzt, nur bei einem Notfall, und dann können es durchaus Antibiotika sein, denn das Tier soll nicht leiden«, sagt Bauer Braun und hängt sein Veterinär-Konzept noch an: »Ich würde gern ein Jahresgehalt an den Arzt zahlen, und wenn ein Tier krank wird, fällt kein Honorar an. Dann wäre der Tierarzt selber drauf aus, dass das Vieh nicht krank wird.« Aber: »Die meisten Bauern wollen, dass ihr Viech billig behandelt wird und schnell wieder produziert.« Dass sie dies im Grund selbst in der Hand haben, »wollen sie nicht sehen«.
 

So kemma ned weidamåcha!

»Wir kaschieren doch nur!« Das ist nicht unbedingt die Ausdrucksweise eines Landwirts: »Kaschieren«. Sepp Braun hat sich diesen Begriff erarbeitet, könnte man sagen. Früher war er selbst auf der anderen Seite, war der Faszination der Technik erlegen. »Ich habe mit Monsanto zusammengearbeitet und mit der Großmolkerei Weihenstephan. Mich hat lange beeindruckt, was der Mensch erreicht hat.« Doch um welchen Preis? »Wir greifen in die natürlichen Kreisläufe ein wie nie zuvor. Früher hätte das Hungersnöte verursacht. Heute haben wir die Möglichkeiten, die negativen Resultate zu kaschieren. Aber bald werden wir auch hier unsere Grenzen erreicht haben. Wir plündern und plündern und plündern.«

Es gab keinen Aha-Moment, die Missstände wurden ihm allmählich bewusst. 1982 hatten sie den Hof übernommen, »und 1986 kam Tschernobyl«, sagt Irene und setzt sich mit an den großen Holztisch. »Johanna, unsere erste Tochter, war gerade drei Jahre alt. Das war der Neuanfang für uns!« Jetzt gab es kein Zurück mehr. Der sogenannte gesunde Menschenverstand kann stärker sein als die Gehirnwäsche der Industrie, egal, ob Agrar oder Nuklear. 1988 haben sie schließlich ihre 57 Hektar auf Biolandbau umgestellt. Drei weitere Töchter – Michaela, Maria und Christine – kamen dazu. »Das hat mich auch verändert, die starke weibliche Sicht auf diesem Hof«, sagt Sepp.

Bald wird er 55, seine Erkenntnis – im O-Ton –: »So kemma ned weidamåcha!« Und trotzdem machen wir so weiter; das »wir« ist angebracht, denn die Mehrheit der Landwirte wird nicht vom bisherigen Pfad abweichen und schaut milde auf einen Spinner wie den Braun, sofern sie ihn überhaupt wahrnimmt. So kommt es, dass Sepp Braun von der E. F. Schumacher-Gesellschaft in München eingeladen wird, einen Workshop zur Bio-Landwirtschaft zu leiten, während er vom Bauernverband nur Unverständnis erntet. Dort, im konventionellen Lager, scheut man solche wie ihn, denn er kennt Ziele und Argumente der Gen-Befürworter und Chemie-Ideologen. »Mir kann keiner an den Karren fahren«, sagt er, »ich kenne beide Seiten, aber ich weiß auch, dass die meisten konventionellen Agrarwissenschaftler wirklich glauben, sie könnten und würden die Welt verbessern.«
 

Ein Hof als Biotop

Wenn wir so nicht weitermachen können – ja, wia soima denn weidamåcha, Sepp? Seine Augen hinter den runden Brillengläsern funkeln – mit seinem kurzen, schwarzen Bart und seinem Haarkranz hat der schlanke Mann etwas Intellektuelles; ein eloquenter Tüftler mit Stallgeruch. Nur dass es eben in seinem Stall nicht stinkt, weil ein organisch-biologisch arbeitender Hof sich schon im Geruch entscheidend von einem konventionellen unterscheidet. Von der Kuh zur Wiese und weiter bis in den Boden zu den Würmern reicht seine Antwort, gute drei Meter sind das, wir arbeiten uns langsam nach unten. Doch noch sind wir oben beim Vieh. Auf dem Braun’schen Hof werden die Kühe acht Jahre alt, manchmal sogar sechzehn; der bayerische Landesdurchschnitt liegt bei vier bis sechs Jahren. Die Kühe sind Partner. Er weiß, dass das romantisch, fast esoterisch klingt, aber er weiß auch, dass es nicht romantisch ist und nicht esoterisch: Entweder gibt es Raubbau wie bisher oder Partnerschaft mit der Natur.

Was heißt das für ihn? »Ich bin ständig dabei, mein Land zu gestalten. Nicht nach Profit, sondern nach Sinn; das heißt aber, dass ich die Flächen dann nicht mehr so schnell bearbeiten kann wie früher.« Jetzt träumt er von sechzig bis achtzig Meter breiten Feldern, dann kommen Hecken, dichtes Gehölz, Pappeln, Erlen, Weiden, Ahorn, mindestens zehn Meter breit der Holz-Gürtel, dann wieder Anbau- oder Weideflächen. So wird das Mikroklima stabiler, bodennahes CO2 wird gebunden. Die Strauch- und Baumgürtel sind gleichzeitig Wetterschutz und Biotop. Er will Leben sehen. Wenn im Gesträuch Mäuse, Igel und Kröten leben und Vögel ihre Nester bauen, dann schweben in der Luft auch Greifvögel, und über die Fläche rasen Hasen. »Vielfalt muss unser Ziel sein«, sagt er, »ohne Vielfalt kein Ausweg aus der Misere.« Den Ausschlag gab eine Erkenntnis des Forstwissenschaftlers Michael Ammer am Wissenschaftszentrum Weihenstephan, das der Technischen Universität München angegliedert ist: Ein Mischwald setzt durch Photosynthese doppelt so viel Licht in Energie um wie ein Maisfeld gleicher Größe – und er bindet doppelt so viel Kohlendioxid. »Zehn Jahre lang habe ich diesen Vergleich mit mir herumgetragen, aber zwischen Idee und Verwirklichung liegt halt oft eine große Zeitspanne«, sagt Sepp.
Wir gehen über die Weide, die noch Winterspuren zeigt. Bald wird das Kleegras in dickem Grün kommen. Kleegras ist eine Gemeinschaft aus Leguminosen und Gräsern: Rotklee, Weißklee und Hornklee mit Weidelgras, Lieschgras, Knaulgras, Wiesenschwengel und Wiesenschweidel. Dazwischen gibt es noch viele Kräuter, die andere gern auch als Unkraut bezeichnen – Spitzwegerich zum Beispiel, die Futterpflanze mit der höchsten antibiotischen Wirkung. Wenn der Sepp über seinen Boden geht, spürt er, wie es darunter aussieht. Wenn er Disteln und Ampfer begegnet, dann weiß er, wie tief sie den Boden lockern, dort, wo andere nicht hinreichen. Nicht zu vergessen die Luzerne, »Königin der Futterpflanzen«: sie bohrt sich bis zu vier Meter hinunter. 
 

Von Würmern und Wurzeln

Dort treffen sich die Wurzeln mit den Würmern, die nicht nur an der Durchlüftung arbeiten, sondern auch Qualität beisteuern: »Da ist doppelt so viel Stickstoff drin, wie ich in der konventionellen Landwirtschaft zuführen müsste«, sagt er. Nicht nur das: Die »Wenigborster« (Lubriciden) produzieren – im Vergleich zur Erde aus dem Gartencenter – das Doppelte an Kalk, das Zwei- bis Sechsfache an Magnesium, das Fünf- bis Siebenfache an Stickstoff, das Siebenfache an Phosphor sowie das Elffache an Kali. »80 Tonnen pro Hektar und Jahr liefern die mir!« Sepp sagt es mit Stolz. Mit Recht: Bei seinen 57 Hektar sind das 4560 Tonnen Humus, wie er besser nicht sein könnte. »Humus bindet Kohlendioxid. Wenn ich mich um Humusaufbau auf meinem Land kümmere, tue ich nicht nur etwas für mich.« Das entspricht der Strategie »Global denken, lokal handeln«.

5783 Bioland-Höfe gibt es in Deutschland, zur Jahrtausendwende waren es noch 3561. Der Hof von Dürneck gehört zu den 16 bayerischen Demonstrationsbetrieben, die immer offenstehen und als Impulsgeber agieren. Ein Impuls dieser Höfe wurde auch in der Nachbarschaft aufgenommen: Seit zehn Jahren hat das Wissenschaftszentrum Weihenstephan einen Lehrstuhl für Ökologischen Landbau und Pflanzenbausysteme eingerichtet.

Wir gehen ins Büro an den PC. Die Arbeitshände, gerade noch in der Erde, greifen jetzt in die Tastatur. Er sucht die Fotos von den Würmern. »Allolobophora caliginosa, Allolobophora rosea und Lumbricus terrestris« – wenn Sepp die lateinischen Namen ausspricht, dann ist ein liebevoller Klang dabei. Es gab einen Versuch mit Bodenkundlern, bei dem die Würmer in einem Kubikmeter Erde seines Hofs gezählt wurden: 350 war das Ergebnis. Der deutsche Durchschnitt liegt bei 18 Würmern. Jetzt hat er das Foto gefunden, es war falsch abgespeichert. Es zeigt drei Reihen von Gläsern, darin Regenwürmer in Formalin. »Die haben für die Wissenschaft sterben müssen.« Es ist augenfällig: die wenigsten im Brachland, schon mehr im fünf Jahre lang gemulchten Garten, die meisten im organisch-biologisch bewirtschafteten Boden.

Im Bücherregal daneben stehen Werke über Wurzeln. Von den Wurzelfrauen Lore Kutschera und Monika Sobotik habe er am meisten gelernt, erzählt Sepp, wischt die Hände an der Hose ab und schlägt einen Wurzelatlas auf; jetzt kann ich mir vorstellen, warum seine Vorträge so beliebt sind: Er vermittelt Glaubwürdigkeit, spricht ohne Besserwisserei unmittelbar aus seinem partnerschaftlichen Verhältnis zur Natur. Er zeigt mir verschiedene Tiefwurzler, beeindruckende Grafiken. »Monika Sobotik sagt, dass oben nur der Kopf herausschaut. Der Pflanzenkörper ist eigentlich unserem Blick entzogen.« Er war zum Pflanzensoziologischen Institut nach Klagenfurt gefahren und hat sie nach Dürneck geholt. Wenn er sich in etwas einarbeitet, geht es tief.

Radix – die Wurzel. Radikal – von der Wurzel her. Sepp Braun – ein Wurzelsepp, ein Radikaler.
Draußen knirscht der Kies, ein Auto hält. »Kundschaft«, sagt der Sepp. In zwei Stunden ist Mitternacht. Wer nachts am Dürneck 23 vorbeifährt, sieht ein Neonlicht am ansonsten dunklen Gehöft. Es kommt aus dem Vorraum der Käserei, dessen Eingang Tag und Nacht offen steht, innen ein Kühlschrank mit gläserner Tür, die Fächer voll mit Käse. Eine Frau kommt aus dem Selbstbedienungshofladen, im Arm zwei Gläser Topfen. »Unseren Topfen mögen die Leute besonders«, sagt Sepp. Der Kühlschrank ist nicht abgesperrt, daneben eine Holzschatulle mit einem Schlitz für Scheine, auf einem Teller liegt Wechselgeld. »Vertrauen ist ein guter Boden für Nachbarschaft«, sagt Irene.
Ja, der Boden. Wenn man die Brauns verlässt, dann schaut man mit anderem Blick auf ihn hinunter. 

Links

»Der Bauer mit den Regenwürmen«, ein Film von Bertram ­Verhaag: www.denkmalfilm.tv
Zum Hof: www.biolandhofbraun.de

Quelle
Oya – anders denken. anders leben, Ausgabe 26
http://www.oya-online.de/article/read/1283-wurzelsepp_radikaler.html?omit_overlay=542014f037304

Autor
Claus Biegert

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